Die Krux mit der Anonymität im 360° Feedback
Es ist schon einige Zeit her, da hatten wir einen Praktikanten, der für eine Hausarbeit an seiner Uni einen Text über 360° Feedback schrieb. Seine Darstellung spiegelt die gängige Meinung in Standardwerken zum 360° Feedback wieder.
Ich zitiere: „Dadurch, dass das Feedback anonym gegeben wird, bestehen keine Risiken für den Feedbackgeber, denn oft möchten Feedbackgeber nicht mit ihrer eigenen Rückmeldung in Verbindung gebracht werden. Schließlich geht es in diesem Prozess auch um […] kritisches Feedback und nicht nur darum, positive Rückmeldungen zu Gunsten des Betriebsklimas zu geben.“
In den 10 Jahren, in denen ich mich jetzt mit 360° Feedback aus beruflichem Interesse beschäftige, habe ich die Diskussion über Pros und Cons von anonymem Feedback schon häufig geführt, aber besteht wirklich kein Risiko für den Feedbackgeber?
So sollte es zumindest sein, denn kein Mensch hört gerne Kritik zur eigenen Person. Und welcher Feedbackgeber kann sich schon sicher sein, wie der eigene Chef oder Kollege reagieren wird. Wird sich dieser nett bedanken und später mehr oder weniger subtil alles in gleicher Münze zurückzahlen? Wer weiss das schon? Deswegen werden 360° Feedback-Ergebnisse normalerweise erst dann zurückgemeldet, wenn eine kritische Masse von Feedbackgebern teilnimmt (meist 3-5 Personen pro ausgewerteter Perspektive). So kann der einzelne Feedbackgeber sich im Schutz der Masse offen äußern. Es dürfte offensichtlich sein, dass diese Rahmenbedingung die Wahrscheinlichkeit eines „ehrlichen“ Feedbacks deutlich erhöht. Soweit die Theorie. Aber, ist der einzelne Feedbackgeber wirklich zu 100% geschützt? Nein. Anonymität ist in diesem Kontext oft nur eine Illusion. Ein Restrisiko der Identifizierbarkeit existiert. Feedbackgebern, die Bedenken haben, würde ich drei Tipps geben.
1. Zum einen sollten Sie sich den Aufbau des 360° Feedback-Ergebnisbericht vorab anschauen. Eine Max-Mustermann-Variante muss immer vorliegen und auf Nachfrage jedem (auch den Feedbackgebern) zur Verfügung gestellt werden. Im Bericht werden immer Mittelwerte ausgewiesen. Unterschiede gibt es allerdings dahingehend, wie detailliert Informationen zur Verteilung der Einzelfeedbacks aufgeschlüsselt sind. Aus der Perspektive der Feedbackempfänger sind natürlich möglichst präzise Informationen wünschenswert. Diese möchten häufig gerne wissen, ob ein beispielsweise durchschnittliches Feedback auf einem großen Konsens beruht, oder ob sogenannte „Fans“ und „Kritiker“ existieren. Ein guter Ergebnisbericht findet sowohl für Feedbackgeber als auch für -empfänger einen passablen Kompromiss. Sollte im Bericht exakt aufgeschlüsselt sein, wie häufig eine bestimmte Bewertung gegeben wurde, dann ist durchaus Vorsicht geboten.
2. Eine zweite wichtige Frage, die sich vorsichtige Feedbackgeber stellen sollten, ist die nach der Anzahl weiterer Feedbackgeber in der eigenen Auswertungseinheit. Es ist hier wichtig zu wissen, dass beim 360° Feedback die jeweils erhobenen Perspektiven (oft: Mitarbeiterperspektive, Kollegenperspektive, Kundenperspektive) für sich genommen ausgewertet werden. Sind z.B. neben Ihnen nur 3 weitere Kollegen im Team Ihres Vorgesetzten, dann wird Ihre Bewertung einen stärkeren Einfluss auf den Mittelwert haben, als beispielsweise in einem Team mit 15 Mitarbeitern. Und selbst in großen Teams ist nicht automatisch garantiert, dass der Vorgesetzte jeden seiner Mitarbeiter befragt. Dies ist zwar in der Regel der Fall, aber eine Nachfrage gibt auch hier Sicherheit. Ein gutes 360° Feedback zeigt dem Feedbackgeber an, wieviele weitere Feedbackgeber mit ihm gemeinsam eine Auswertungseinheit bilden.
3. Der dritte potenzielle Fallstrick findet sich in den Freitextantworten, die es in fast allen 360° Feedback-Systemen gibt. Gerade die Möglichkeit, dem Feedbackempfänger in eigenen Worten etwas zu schreiben, hat für diesen einen hohen Wert. Ich erlebe regelmäßig, dass diese Rückmeldungen den stärksten Eindruck hinterlassen und nicht selten Ausgangspunkt für ein Umdenken sind. Zugleich sind diese freien Texte besonders anfällig dafür, dem tatsächlichen Autor zugeschrieben werden zu können. Oft sind es typische Fehler, charakteristische Formulierungen oder Themen, die die Identifikation möglich machen. Ich kann daher verstehen, dass Feedbackgeber sich bei Freitexten lieber zurückhalten. Allerdings vergeben sie sich damit auch eine große Chance, denn NO Feedback – NO Change! Daher würde ich dazu raten, das Feedback immer so zu formulieren, als würde man dieses von Angesicht zu Angesicht vortragen. Gutes Feedback kommt nicht vom Richterstuhl, sondern von der Trainerbank:
– Schreiben Sie, warum Sie ein bestimmtes Verhalten stört.
– Welche Wirkung hat dieses Verhalten auf Sie persönlich?
– Welches alternative Verhalten würden Sie sich vom Feedbackempfänger stattdessen wünschen?
Jetzt kommt normalerweise der Moment, wo der eine oder andere fragt, warum dann ein 360° Feedback überhaupt anonym sein muss. Ist es nicht im Sinne einer offenen Kommunikation kontraproduktiv, sich hinter der Anonymität dieses Instrumentes zu verstecken?
Also, wenn Sie mich fragen, dann gilt selbstverständlich ein Sowohl-als-auch. Das eine tun,ohne das andere zu lassen. Es ist schlicht unwahrscheinlich, dass relevantes Feedback ohne einen konkreten Anlass, wie ein 360° Feedback, den Empfänger jemals erreicht. Zu konfliktscheu sind die meisten Menschen. Zu gering ist der antizipierte Nutzen in Relation zum damit verbundenen Risiko. Deswegen sind anonyme Feedbacktools großartige Steine des Anstoßes. Die Schriftform des Feedbacks hat zudem die wichtigen Vorteile, dass eine unmittelbare Reaktion nicht notwendig ist und dass stressfrei und überlegt nach allen Regeln der Kunst des Feedbackgebens formuliert werden kann.
Ich sage: Auf- und Seitwärts-Feedback braucht Anonymität! Was sagen Sie?
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Bildquelle: OpenAI. (2024). Anonymes Feedback [Digital image created with DALL-E]. Retrieved from https://openai.com/