
AHP-App: Wie man anderen hilft, die richtigen Entscheidungen zu treffen
Viele Menschen tun sich schwer, eine Entscheidung zu treffen – erst recht die richtige. Der Analytic Hierarchy Process (AHP) ist eine von dem Mathematiker Thomas L. Saaty entwickelte Methode, um Entscheidungsprozesse zu unterstützen. Im Coaching verwende ich von zeit zu Zeit dieses Vorgehen, wenn mein Klient a) selber sehr strukturiert und analytisch denkt und b) die Entscheidungsqualität, nicht seine Entscheidungsfreude im Fokus steht. Es existiert eine iPhone App namens iDecide+ (läuft auch auf dem iPad), die dieses Vorgehen sehr schön implementiert. Ich nehme dies zum Anlass, die insgesamt wenig verbreitete AHP-Methodik im Rahmen meiner Artikelserie ”Coaching und Moderation: Ankunft im digitalen Zeitalter” vorzustellen und anhand eines konkreten Praxisbeispiels die Benutzung der Software zu erklären.
Stellen Sie sich die folgende Situation vor: Sie sind mit Ihrem (oder: Ihr Klient ist mit seinem) aktuellen Job unzufrieden. Es gibt für ihn unterschiedlichste Alternativen:
- den Arbeitgeber wechseln (wir nehmen an, ein konkretes Angebot liegt vor)
- sich selbständig machen
- ein Sabbatjahr einschieben
- nochmal etwas anderes studieren
- sich auf eine andere Position beim aktuellen Arbeitgeber bewerben
- einen Sonnenschirmverleih auf Sylt eröffnen
- und schließlich: „nichts ändern“ und im aktuellen Job weiterarbeiten
Wie gehen Sie vor wenn Sie andere dabei unterstützen, die richtigen Entscheidungen zu treffen? Vielleicht werden Sie zunächst ergründen, welche Bedürfnisse mit einem Jobwechsel befriedigt werden sollen. Möglicherweise sind es die folgenden:
- herausfordernde Tätigkeit
- geringe Distanz zum Wohnort
- gute Work-Life-Balance
- hohes Grundgehalt
- hohe Arbeitsplatzsicherheit
- wenig Reisetätigkeit
- Gelegenheit, viel Neues zu lernen
- viel Flexibilität haben
Können Sie sich in mein Beispiel hineindenken? Es liegt auf der Hand, dass mache dieser Bedürfnisse wichtiger sind als andere. Die Alternative mit der besten Bedürfniserfüllung sollte logischerweise gewählt werden. Das menschliche Gehirn ist allerdings nicht besonders gut darin, so viele Variablen auf einmal zu berücksichtigen. Am Ende treffen wir oft eine Bauchentscheidung beziehungsweise verlassen und auf unsere ungenauen und fehleranfälligen Urteilsheuristiken.
Die AHP-Methode von Saaty systematisiert diesen Prozess. Das Vorgehen basiert auf Paarvergleichen und einer „Priese“ Matrizenrechnung und wird an dieser Stelle nicht im Detail beschrieben. Als reiner Softwareanwender reicht es aus, die oben beschriebenen Bedürfnisse und (Job-)Alternativen in iDecide+ einzutragen. Das Vorgehen und die Möglichkeiten der Konfiguration (speziell die Skalenauswahl) werden sehr anschaulich in Form von 7 Screencasts auf der Seite des Herstellers fastworks erklärt. Es bedarf zwar einer kurzen Einarbeitung, aber die lohnt.

Screenshot 1: Im ersten Schritt muss sich der Klient entscheiden, was ihm wichtiger ist.
Nach abgeschlossener Konfiguration führt uns iDecide+ durch insgesamt 28 Paarvergleiche (=vollständiger Paarvergleich) nach folgendem Prinzip: Was ist mir wichtiger? Eine „herausfordernde Tätigkeit“ oder „eine geringe Distanz zum Wohnort“? Der Nutzer kann beide Alternativen als gleich wichtig („Equal“) bewerten, oder er schiebt den Regler auf die eine oder andere Seite, bis hin zur maximalen Skalenausprägung („Extreme“). Der folgende Screenshot rechts zeigt exemplarisch die Bedürfnislage eines meiner Klienten. Hier wird auch schon ein großer Vorteil dieses Vorgehens deutlich: Die Reduktion auf zwei miteinander zu vergleichende Kriterien reduziert die Komplexität der Entscheidungsaufgabe enorm und macht sie für uns Normalsterbliche handhabbar.

Screenshot 2: In einem zweiten Schritt kann bei Bedarf die Stimmigkeit der eigenen Vergleichsurteile gezielt verbessert werden.
28 Paarvergleiche später, ist er sich nicht mehr sicher, ob er sich nicht irgendwo widersprochen hat. Denn, wenn A wichtiger B und B wichtiger C, dann muss theoretisch auch A wichtiger C sein. Die Software unterstützt mich und ihn aber auch hier und berechnet einen Konsistenzindex (0 – 100%) auf Basis seiner Paarvergleiche. In meinem Beispiel liegt dieser bei 53% (poor = dürftig). Er ist also nicht besonders gut in der Lage, eine in sich stimmige Priorisierung zu erstellen. Ein kleiner grüner Pfeil zeigt uns glücklicherweise an, wie sein Urteil hätte ausfallen müssen, um den Konsistenzindex maximal positiv zu beeinflussen (vergl. Screenshot 2). In einem zweiten Schritt können wir also jeden seiner Paarvergleiche nochmals hinterfragen und evtl. korrigieren. Ist ihm vielleicht tatsächlich eine „geringe Distanz zum Wohnort“ wichtiger als eine „herausfordernde Tätigkeit“? Wenn ich den Schieberegler auf die Position des grünen Pfeils versetze, steigt der Konsistenzindex immerhin auf 62%. Nach Abschluss aller Korrekturen erreichten wir übrigens eine gute Konsistenz von 90%.

Screenshot 3: So könnte die Wichtigkeit der Bedürfnisse in eine Rangreihe gebracht werden.
Aus diesen Daten errechnet uns iDecide+ das in Screenshot 3 dargestellte Ranking. Meinem Klienten ist also Flexibilität am wichtigsten. Im dritten Schritt muss er jetzt nur noch für jede seiner Job-Alternativen (siehe oben) die Fakten eintragen und manchmal schätzen. Wieviel Flexibilität bietet ihm ein neuer Job (Skala: 0-10)? Wieviel Reisetätigkeit bringt dieser mit sich (Skala: viel/mittel/wenig)? Wie groß ist die Entfernung zum Wohnort (Skala: Angabe in km)? Hat er alle Einträge ausgefüllt, erhalten wir im Ergebnis eine Rangreihe seiner Job-Alternativen. In der Regel ist es die Alternative mit der besten Passung, für die er sich entscheiden sollte. In meinem Praxisbeispiel liegen zwei Alternativen gleich auf (vergl. Screenshot 4): Entweder er ändert nichts (76,5%) oder er wagt den Schritt in die Selbständigkeit (75,9%). Auf jeden Fall berichtet er das Gefühl seine Entscheidung auf Basis eines fundierten analytischen Vorgehens getroffen zu haben, so dass er in seinem Entscheidungsprozess ein gutes Stück weiter gekommen ist.

Screenshot 4: So sieht das Endergebnis aus. Die Job-Alternative mit der besten Passung wird ganz oben, die mit der geringsten ganz unten angezeigt.
Fazit: Mein abschließendes Urteil zu iDecide+ fällt sehr positiv aus. Die App bedient sich nach einer ersten Eingewöhnungsphase sehr intuitiv und komfortabel. Der Menüpunkt Explore erlaubt sogar die Betrachtung bestimmter Was-Wäre-Wenn-Szenarien. Zum Beispiel kann mein Klient ausprobieren, welche Alternative er präferieren sollte, wenn er weniger Wert auf Flexibilität legen würde. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass eine doppelstündige Sitzung für den gesamten AHP-Prozess meist zu kurz ist. Besser eignen sich drei oder sogar vier Stunden. Im Prinzip sind es nur zwei Punkte, die ich zu kritisieren habe. Zum einen ist die App limitiert auf 10 Kriterien (in meinem Beispiel: Bedürfnisse). Das reicht zwar in den meisten Fällen aus, aber eben nicht in allen. Mein zweiter Kritikpunkt hängt damit indirekt zusammen. Es liegt in der Natur der Methodik des Paarvergleichs, dass die Anzahl notwendiger Paarvergleiche mit der Anzahl zu bewertender Kriterien exponentiell steigt. Bei meinen 8 Kriterien waren 28 Paarvergleiche [ Formel: (n * (n-1)) / 2 ] nötig. Bei 15 Kriterien wären es schon 105 Paarvergleiche. Hoher Zeitbedarf und aufkeimende Frustration sind die Folge. Es gibt auch Softwarelösungen, die mit unvollständigen Paarvergleichen arbeiten und deswegen auch für eine größere Anzahl von Kriterien geeignet sind. Die Methodik wird u.a. von Staufenbiel und Kleinmann beschrieben.
Losgelöst vom oben geschilderten Beispiel gibt es natürlich eine Vielzahl weiterer Anwendungsmöglichkeiten der AHP-Methodik, auch außerhalb des Coachingbereichs. In meinem Job als HR-Berater verwende ich das Vorgehen häufig bei der Erarbeitung von Kompetenzmodellen für die Personalauswahl und Personalentwicklung. Doch auch dazu vielleicht an anderer Stelle mehr…
___
Bildquelle: OpenAI. (2024). Entscheidungen treffen mit einer AHP-App [Digital image created with DALL-E]. Retrieved from https://openai.com/