Viel Kritik an Zalandos Peer-Review-System „Zonar“
Auf Anregung eines geschätzten Kollegen (danke Thomas), habe ich mir einen 10-Minuten Beitrag in der WDR-Mediathek angehört. Es geht um eine Peer-Feedback-Software namens Zonar, die der Modeversender Zalando einsetzt (bzw. selbst entwickelt?), um hochfrequente und verpflichtende gegenseitige Bewertungen im Mitarbeiterkreis umzusetzen. Die Ergebnisse sollen laut diverser Presseerzeugnisse die Mitarbeiterschaft in A-, B- und C-Kandidaten differenzieren und unmittelbare Auswirkungen auf Karriere und Gehalt haben.
Die Firma Zalando sieht sich deswegen aktuell einem mittelgroßen Shitstorm ausgesetzt. Aber warum eigentlich?
Ausgangspunkt der im Netz und in der Presse ausgetragenen Debatte ist eine qualitative Studie des Soziologen Prof. Dr. Philipp Staab von der Humboldt Universität in Berlin. Dieser hat Interviews und Workshops mit Mitarbeitern von Zalando geführt. Auch interne Unterlagen/Präsentationen wurden ihm wohl zugespielt.
Mein Verständnis von der Ausgangslage ist nach hören des WDR-Beitrags und lesen weiterer Artikel (FAZ, Heise, Süddeutsche) so, dass die Contra- und Pro-Positionen in etwa wie folgt begründet werden:
- Contra: Offensichtlich bewerten sich bei Zalando recht regelmäßig 5.000 der insgesamt 14.000 Mitarbeiter gegenseitig. Im Prinzip handelt es sich in unserer Terminologie um ein 90°-Feedback, also eine Teilkreisbefragung aus einem 360° Feedback. Die zentrale Position der Kritiker (darunter auch die zuständige Gewerkschaft) ist die, dass Zalando mit diesem Instrument Mitarbeiter unter Druck setzt indem „Stasi-Methoden“ anwendet werden. Formuliert wird auch die Angst vor gegenseitigem Mobbing und einer Retourkutsche, wenn man mal nicht so freundlich zu einem Kollegen war.
- Pro: Nun, die Gegenposition lautet in etwa so, dass die Bewertungen durch die Kollegen allemal fairer seien, als durch eine einzelne Führungskraft alleine. Kritisiert wird seitens Zalando auch, dass die Studie durch die gewerkschaftsnahe Böckler-Stiftung finanziert wurde und daher nicht frei von Interessen ist. Ein weiteres starkes Problem der Studie ist die viel zu geringe Anzahl der Interviewpartner (ausschließlich „Whistleblower“?) sowie deren offensichtlich selektive Rekrutierung.
Was wir hier sehr schön beobachten können, sind die üblichen Positionskämpfe, wenn Feedbacksysteme nicht ausschließlich zur individuellen Personalentwicklung (niemand außer dem Feedbackempfänger selbst hat Kenntnis von den Ergebnissen) sondern im Rahmen des Performance-Managements (mit Auswirkungen auf Karriere, Gehalt, …) eingesetzt werden.
Gedanken zum aktuellen Zalando-Fall
Ich gehe erstmal davon aus, dass die verantwortlichen Personen bei Zalando es sich nicht leicht gemacht haben und im Rahmen der Konzeption des Zonar-Tools sich auch der potenziellen Problematik bewusst waren. Der Ansatz, auf Peer-Feedback im Rahmen der Leistungsbeurteilung zu bauen ist wissenschaftlich durchaus nachvollziehbar, denn tatsächlich zeigen Studien, dass Kollegen oft besser Leistung einschätzen können, als Vorgesetzte dazu in der Lage sind.
Die Höhe der Wellen zeigt aber auch, dass nicht jeder gleichermaßen bereit ist, sich der Bewertung durch Kollegen zu stellen. Man könnte jetzt denken, dass es eher die Low-Performer sind (die C-Mitarbeiter), die besser damit leben können, wenn sie nur ihrem Chef etwas vorspielen müssen. Die Top-Leute im Unternehmen sehen im Peer-Feedback vielleicht eher eine Chance. Insbesondere die Leistungsträger, deren Vorgesetzte sie bislang nicht als solche wahrgenommen haben.
Relativ sicher bin ich mir, dass die beschrieben Systematik sich kulturverändernd auswirken wird. Nur ist es nicht einfach, die Art der Veränderung vorherzusagen – schon gar nicht, wenn man das Unternehmen nicht gut kennt. Es könnte durchaus passieren, dass die Mitarbeiter Absprachen der Art („Tust du mir nichts, tue ich dir nichts.“) treffen. Hier wäre dann zu klären, wie man durch eine fremdgesteuerte Auswahl der zur Bewertung aufgeforderten Kollegen etwas gegensteuern könnte. Beispielsweise, indem wechselseitige Einschätzungen durch das System unterbunden werden. Auch könnte es natürlich dazu kommen, dass sich Mitarbeiter nicht mehr trauen, unpopulär zu agieren, selbst wenn dies angemessen ist. Konfliktscheue Nice-Guys wären das Ergebnis.
Auf der anderen Seite habe ich persönlich in unseren Projekten die Erfahrung gemacht, dass die allermeisten Mitarbeiter durchaus in der Lage und willens sind, solche Peer-Feedbackinstrumente verantwortungsvoll anzuwenden. Zonar wird voraussichtlich auch positive Effekte auf die Feedback- und Kritikkultur bei Zalando haben. Es ist wie so oft im Leben: „Wo Licht ist, ist auch Schatten.“
Außerdem fehlt mir in der medialen Debatte die Sichtweise, dass die Bewertungen auch Anlass und Motivation für jeden Einzelnen sein können, sich in bestimmten (vielleicht auch zurecht kritisierten) Punkten zu hinterfragen und zu verändern. Ich bin mir sehr sicher, dass neben dem Tool bei Zalando auch noch das persönliche Gespräch zwischen zwei Arbeitskollegen eine wichtige Rolle spielt. Derlei Tools sind immer zunächst nur Sensoren, die auf eine Situation hinweisen. Es würde mich sehr wundern, wenn nicht Führungskräfte, HR-Mitarbeiter und auch Betriebsräte sich dessen bewusst sind, dass jedwede Information gewichtet und eingeordnet werden muss.
Wir können aber festhalten, dass Peer-Feedback im Rahmen der Leistungsbeurteilung ein sensibles Thema ist. Keinesfalls ist vorab klar, ob die positiven Effekte die negativen übertreffen. Im Rahmen eines 2020 erscheinenden Buchbeitrags (Holtmeier & Mertin) haben wir die aktuelle Faktenlage aus wissenschaftlicher Sicht evaluiert. Der Markt entwickelt sich dynamisch. Viele Unternehmen bringen technische Feedback-/Bewertungs-Apps auf den Markt. Leider fehlt in aller Regel jede wissenschaftliche Basis. Würde die Pharmaindustrie auf ähnlich dünner Erkenntnislage Medikamente verkaufen, wäre dies wohl als kriminell einzuordnen. Ich schätze den Mut Zalandos hier etwas Neues auszuprobieren und wünsche dem Unternehmen ein gutes Gespür, um die richtige Dosis und die richtigen Stellschrauben zu finden. Große Freude würde es mir machen, wenn Zalando die eigenen Erfahrungen so transparent wie möglich mit der wissenschaftlich denkenden HR-Community teilen würde. Hey Zalando, wie wäre das?