Eine systemisch-konstruktivistische Sicht auf 360° Feedback-Prozesse
Feedback, speziell auch 360° Feedback, ist ein mächtiges Schwert. Dennoch, an verschiedenen Stellen (z.B. hier und hier und hier) habe ich darauf hingewiesen, dass die Effekte nicht immer den Erwartungen entsprechen. Aus systemtheoretischer Perspektive lassen sich ein paar ganz wesentliche Aspekte ergänzen, die bei der Gestaltung eines maximal wirkungsvollen Feedback-Prozesses berücksichtigt werden sollten.
Feedback soll Handlungsalternativen erweitern, aber tut es das auch?
Das Ziel eines 360° Feedbacks ist die Unterstützung von Reflexionsprozessen beim Feedbackempfänger selbst, sowie auch in seinen beruflichen Systemen (Mitarbeiter, Kollegen, …). Veränderungen bestimmter Denk- und Verhaltensweisen sollen möglichst angeregt werden. Die als „ethischer Imperativ“ von Heinz von Foerster formulierte Verhaltensformel „Handele stets so, dass sich die Anzahl der Handlungsalternativen für andere Personen vergrößert“ bringt das eigentliche Ziel auf den Punkt: Alle beteiligten Personen sollen experimentieren und eine gute Art der Zusammenarbeit muss immer wieder neu er-/gefunden werden.
Aus systemischer Sicht darf aber bezweifelt werden, ob dies immer gelingt. Denn ein Feedback kann de facto Handlungsalternativen einschränken – und tut dies häufig auch. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn ein Feedbackprozess so angelegt ist, dass es schlussendlich auf den alleinigen Abgleich zwischen Fremd- und Selbstbild hinausläuft. Oft werden in 360° Feedbacks die (teils sehr heterogenen) Fremdeinschätzungen der Feedbackgeber zusammengefasst. Nimmt ein Feedbackempfänger diese vermeintlich geteilten Wünsche seines Umfeldes an seine Person für bare Münze, kann er es sich leicht machen und er verhält sich zukünftig schlicht dementsprechend. Er braucht nicht selbst nach Innovationen in seinem Verhalten suchen, weil er einen für dieses System funktionierenden Verhaltensansatz gefunden hat. Seine Feedbackgeber haben ihm möglicherweise einen wesentlichen Teil des Reflexionsprozesses abgenommen. Der Feedbackempfänger wird auf diese Weise zu einem gewissen Grad aus der Verantwortung für sein eigenes Verhalten entlassen, dann er handelt ja gemäß der Wünsche seines (beruflichen) Umfeldes – und jeder ist zufrieden.
Ein besserer Feedbackprozess ist so angelegt, dass der Feedbackempfänger sich aus der Vielzahl unterschiedlichster Ideen seines Umfeldes inspirieren lässt und sich ermutigt fühlt neue Wege auszuprobieren. Der Irrglaube, dass es neben der eigenen Realität eine objektive Realität gibt, deren bester Schätzer der Konsens möglichst vieler externer Feedbackgeber ist, hilft hier nicht weiter.
360° Feedback-Prozesse sind meist rückwärts gerichtet – leider!
In der Systemtheorie gibt es den Begriff des autopoietischen Systems. Der Mensch ist ein solches System, eine Arbeitsgruppe und eine komplette Organisation sind es auch. Gemeint ist, dass wir nicht von einfachen Wirkzusammenhängen ausgehen können, wie dies beispielsweise bei IT-Systemen der Fall ist. Wenn x, dann y… Vielmehr agieren diese Systeme autonom und „aus sich selbst heraus“. Menschen entscheiden selbst, ob und in welcher Form sie sich ihrer Umwelt anpassen.
Wenn nun ein Feedbackprozess auf die Vergangenheit gerichtet ist und sich auf Bewertungen dieser Historie beschränkt, so darf nicht davon ausgegangen werden, dass der Feedbackempfänger daraus eine bestimmte, für den Einzelnen vielleicht logisch erscheinende, Konsequenz für sein zukünftiges Verhalten ableitet.
Aus systemischer Sicht ist es nicht möglich, Menschen/Gruppen langfristig in eine bestimmte Richtung zu lenken. Mehr noch: Es es auch nicht wünschenswert. Ein guter Feedbackprozess lässt den beteiligten Personen möglichst alle Freiheitsgrade. Feedback darf keine Einbahnstraße sein. Das Feedback ist erst dann wirksam, wenn es ein fortlaufender Prozess wird. Ein neues Verhalten beim einen führt zu einem veränderten Verhalten eines anderen. Erst wenn es eine Übereinkunft aller beteiligter Personen gibt, dass der neue Status „ok“ ist, ist die Beziehung stabil, bzw. das System befindet sich in Homöostase. Ändert sich dieser Zustand, ändert sich meist das ganze System.
Um ein 360° Feedback stärker auf Zukunft auszurichten, bedarf es einiger Änderungen gegenüber dem konventionellen Vorgehen. Zum einen sollte überlegt werden, ob eine Skala, die letztlich einzig der Bewertung vorgegebener Verhaltensweisen dient, der richtige Ansatz ist. Es gibt alternative Skalen, die deutlich weniger den Fokus auf Bewertung und Benchmarking legen. Stattdessen sollte ein Fragebogen dazu anregen, in verschiedene Richtungen zu überlegen. Er sollte helfen, die eigene Wahrnehmung zu konkretisieren und diese zu kommunizieren. Ganz wesentlich sind zudem Freitextfelder. Beispielsweise könnte man die Fragestellungen des Creative Knowledge Feedback Modells (Sonja Radatz, 2009) verwenden:
1. Was ist der einzigartige Beitrag des Feedbackempfängers nach außen, bzw. was ist sein USP (Unique Selling Proposition)?
2. Was sind die zukünftigen potenziellen Entwicklungschancen dieser Person nach außen?
3. Was ist der einzigartige Beitrag dieser Person nach innen (z.B. für das eigene Team)?
4. Wovon wollen wir in Zukunft von dieser Person nach innen (noch) mehr erleben?
Ich habe aber auch gute Erfahrungen mit den folgenden Fragen gemacht, die ich für sehr geeignet für ein 360° Feedback halte. Im Kern sollten Fragen für Freitextfelder zukunftsgerichtet sein und den Feedbackempfänger die Informationen generieren, die er für eine verantwortliche Entscheidung benötigt.
Frage 1: Was konkret soll XY aus Ihrer Sicht an seinem Verhalten zukünftig ändern? Geben Sie möglichst ein aussagekräftiges Beispiel.
Frage 2: Welche positiven Auswirkungen hätte ein entsprechend geändertes Verhalten auf Sie, das Team und die Organisation insgesamt?
Der Feedbackempfänger erhält auf diese Weise Antworten auf die Frage der persönlichen Entwicklungsmöglichkeiten im Unternehmen. Was sehen die anderen in mir (schon heute), was ich (noch) nicht sehe.